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4. Juli 2012   /////  Wieder unterwegs
Weiter geht’s! Wir brechen auf, schon wieder. „Zurück aus… Odessa“ ist für uns „Auf nach… Georgien“. Während drei Tagen wird die M/V Greifswald unser Zuhause sein, wird uns über das Schwarze Meer kuttern, vorbei an der Krim und immer weiter ostwärts bis nach Batumi, wo uns die Kaukasusregion – Georgien, Armenien und Aserbaidschan – willkommen heissen wird. Nach zwei Monaten Stadtleben freuen wir uns auf ländliche Weiten, verschneite Berge und, jawohl, drei neue, wunderschön exotische Alphabete! Dafür gilt es Abschied zu nehmen vom Schwarzen Meer, das uns, seit wir im rumänischen Constanta – noch in Daunenjacken gehüllt – zum ersten Mal Muscheln aus dem Sand gepickt haben, die Treue gehalten hat. Wir verlassen Odessa, aber wir haben ein „Zurück nach… Odessa“ im Hinterkopf. Im Winter einmal, wenn sich das Meer von seiner raueren Seite zeigt, die Stadt im fluffigen Schneeflockenkostüm aber nicht weniger verführerisch sein wird.




3. Juli 2012   /////   Im Labyrinth
Wir haben uns zum Gang unter Tag in Odessas unzähligen Katakomben entschieden. Dieses 2’500km lange, verwinkelte Tunnelsystem liegt direkt unter Odessa und ist bis heute nicht komplett erforscht und kartographiert. Diese Unterwelt bot immer wieder Ganoven und Partisanenkämpfern Unterschlupf. Die Entstehungsgeschichte der Katakomben ist aber weit weniger spektakulär: Sie entstanden durch den unterirdischen Abbau von Kalkstein, der im 19. Jahrhundert für den Bau der Stadt benötigt wurde.
Schon der Vorbereitung des Katakombenbesuchs haftet etwas Konspiratives an. Unzählige Telefonate mit unserem vermeintlichen Guide, genannt Vova, gehen dem Treffen voraus. Der Ort und die Zeit – immerhin zwei Komponenten die stets wieder ändern können. Am vereinbarten Treffpunkt scheint dann alles zu klappen, Vova erscheint mit einem Übersetzer, der uns begleiten wird. Doch nun informiert uns Vova, dass nicht er unser Guide ist. Unser Guide käme bald, er selbst müsse weg, wir werden den eigentlichen Guide an einem andern Ort treffen. Da warten wir nun also auf irgendwen, mit irgendwem, irgendwo.
Etwas später tauchen die Guides auf, deren zwei sind es nun an der Zahl: Der Chef-Guide, der uns durchs Labyrinth führt und unter Tag Räubergeschichten zum Besten gibt. Bei ihm würden wir oben, bei Tag nicht ins Auto einsteigen wollen. Aber hier unten gelten andere Gesetze. Dann ist da der Sous-Guide. Er führ uns durchs Dunkle, wenn der Chef-Guide hinten gehen will, damit er eine Zigarette rauchen kann. Und nicht zu vergessen, der Übersetzer, damit den Räubern ihre Geschichten überhaupt verstanden werden. Er träumt eher von einem Leben auf dem Surfbrett als von einem bleichen Dasein unter Erde. Alle drei scheinen nicht mehr als zwanzig Jahre alt zu sein.
Unter Bäumen hinter einem Supermarkt findet sich der Abgang zu den Katakomben. Mit einem Grinsen auf den Stockzähnen fragen wir unsere Guides, ob sie heute Abend auch noch was vorhätten. Die Ironie unsererseits ist nur gespielt. Auf allen Vieren kriechen wir durch ein Loch im Boden, welches fast gänzlich mit Müll bedeckt ist, nach unten. Nach dem ersten Engnis folgt bald eine steinerne Treppe, die uns gut dreissig Meter in die Tiefe führt. Im Anschluss folgt ein langer sich verzweigender Gang – in weniger als fünf Minuten ist man auf Gedeih und Verderben dem Guide ausgeliefert.
Uns erschliessen sich hunderte von Gängen, Abzweigungen und Räumen. Hier unten ist es feucht und sandig, ab und zu treffen wir auf schaumartige, kompakte weisse Pilzgebilde. Ansonsten ist die sichtbare Flora wie Fauna inexistent. Wir schleichen durch ehemalige Bunker und Kommandozentralen mit noch fast intakten Stuckdecken. Kegelförmige Backsteingebilde stützen schwache Stellen im Gestein, damit Odessas Häuser sich nicht senken können. Der Guide zeigt uns alte technische Installationen, Belüftungs- und Wasserfilteranlagen, sowie Räuberhöhlen und Stalin-Fresken. Für bare Münze darf man nur die Dunkelheit nehmen. Sobald die Taschenlampe ausgeschaltet ist, wird man sich seiner Hilflosigkeit bewusst. Da helfen auch die abgerollten Magnetbänder von Tonbandkassetten nicht viel, welche früheren Besuchern den Weg weisen sollten.




24. Juni 2012   /////   Stadt in Grün
Ausserhalb der vielen Pärke – allen voran der Schevtchenko-Park, der das Stadtzentrum mit dem Strand verbindet und als grüne Lunge Odessas bezeichnet werden könnte – hängt das Grün meist über unseren Köpfen.
Diejenigen Strassen, die von Süden nach Norden, also hin zum Primorskye Boulevard, der Potemkin-Treppe und der Oper führen, sind von mächtigen Platanen gesäumt, die wohl so alt sind wie die Strassen selbst. Sie bilden einen hohen, sakral anmutenden Strassenraum (vielleicht ist gotisch das passendere Wort) der die Fassaden der Gebäude sichtbar lässt, über den Strassen aber ein fast geschlossenes Dach bildet. Entlang der weniger wichtigen Querstrassen haben Odessas Stadtplaner meist filigrane Eschen oder bauchige Kastanien gepflanzt. Ihr Grün hängt tiefer, dies schafft ganz andere, beschaulichere Räume und bringt die Hierarchie im rechtwinkligen Strassennetz zum Ausdruck. Zwischendrin findet sich auch der eine oder andere Exot, ein Brombeerbaum hier oder eine Weinrebe dort, vereinzelt sogar einige Nadelbäume. Letztere stehen meist vor wichtigen Verwaltungsgebäuden Spalier.
Das Baumdach, das den breiten Boulevards so wunderbar Schatten spendet und das die Herzen von Landschaftsarchitekten mit Sicherheit höher schlagen lässt, macht aus Odessa eine durch und durch begrünte Stadt ohne dass sie auf das kleingeistige Repertoire von Hecken, Rabatten, Blumenkistli und anderem Abstandsgrün angewiesen wäre.




16. Juni 2012   /////   7km
An der Peripherie der Stadt - um genau zu sein, sieben Kilometer vom Zentrum entfernt - liegt der 7km Markt. Dem Taxifahrer genügt als Ortsangabe 7km, einzig welchen der vielen Eingänge wir bevorzugen ist ihm noch nicht klar.
Der Markt wurde auf einer ehemaligen Abfalldeponie errichtet, nachdem er im Zentrum Odessas zu gross wurde. Heute ist der Markt einer der grössten Arbeitgeber der Region.
Kaum sind wir drinnen im Markt, werden wir auch schon wieder hinausgespült. Hier hat man zu wissen, wohin man will, für zielloses Verhalten hat es nicht viel Platz. Kurze Zeit später, neu mit Wasser und Sonnenbrille gegen die unsägliche Hitze ausgerüstet, springen auch wir rein, hinein in den Menschen- und Wagenstrom. Eine doppelstöckige Containerlandschaft in der Grösse von siebzig Fussballfeldern breitet sich vor uns aus, rund 15 000 Container beherbergt der Markt, 20 Millionen Dollar beträgt der Tagesumsatz. Es sind alte, ausrangierte Schiffscontainer, die bis an die Decke gefüllt sind mit Waren des täglichen Gebrauchs. In den unteren Containern befindet sich der Verkaufsladen, in den oberen der Lagerraum, beides verbunden mit einer winzigen Treppe. Die Containerschluchten sind nach Themen sortiert, nur an den Gassenenden vermischen sich manchmal die zum Verkauf angebotenen Waren. Die Strassen sind nach der Containerfarbe benannt: diese gibt es in grau und hellgrau, in violett und pink, in lachs und hellblau. Es gibt Gassen voller Spielzeug, Schuhe, Kleider, Stoffe, Küchenzubehör, Badzubehör usw. Die zurückgelegten Wegstrecken sind für uns Containerunkundige natürlich immens: Wir sind bei den Sanitärcontainern, suchen aber die Stoffabteilung. Oder wir sind bei den Kleidercontainern wollen aber zum Autozubehör.
Schatten ist rar, ihn findet man oft nur im Innern eines Containers. Dort bleibt einem dafür fast die Luft weg, die Container sind bis oben vollgestopft mit Sachen. Unterwäsche ist prall auf einen metallenen Ring gespannt, Schuhe, hohe oder neonfarbene, glitzern zu Hunderten auf Plexiglastablaren, Kinderspielzeug trötet, quietscht und summt aus allen Ecken, Wände voller verspiegelter Sonnenbrillen erinnern an Diskokugeln. Markenware wird kopiert und kopierte Logos werden weiterverwendet. So sind Plastiksäcke mit der Aufschrift BMW nicht selten gesehen.
Als wir so durch die Gassen schlendern, hören wir plötzlich einen lauten sonoren Ruf hinter uns. Wir springen neben die Gasse, die Achillesverse muss in Sicherheit gebracht werden. Die Dame mit der männlichen Stimme verkauft варeники (Varenyky) und пельмені (Pelmeni), die traditionellen Teigtaschen sowie Getränke ab einem kleinen Wagen, den sie energisch durch die Menschenmasse drückt.
Währendem im Zentrum des Marktes noch das volle Marktleben pulsiert, wird an den hinteren Enden bereits zusammengeräumt. Die ganze Ware, die aus den Containern quillt wird im Innern gestapelt und die Container werden verschlossen. Der Abfall, der während des Tages anfällt, wird in die Gassenmitte geschoben, von wo er dann auf wundersame Weise bis zum nächsten Morgen verschwindet. Ein neuer Tag wird anbrechen, die Türen werden sich öffnen, die Ware wird bereitgestellt für einen neuen hektischen und heissen Tag.




15. Juni 2012   /////   Nachbarschaftsranking
Seit geraumer Zeit wird an einem neuen Weltbild gearbeitet, erschaffen von einem grenzenlos und weltumspannend vernetzten Kollektiv. Im eindimensionalen Tunnelblick von Ranglisten oder mithilfe der altmodischen 1-Bit-Technologie von "Gefällt mir" und "Gefällt mir nicht" wird Gut und Böse auseinandergefiltert und die Komplexität der Welt darstellbar gemacht. Während das Statistische Jahrbuch, das Guinness-Buch und die DRS3-Hitparade viele Jahre einsame Wegbereiter waren, wird heute der gesamte menschliche Wirkungsbereich mithilfe von Rankings und Ratings systematisch kartografiert. Ökonomen bewerten die Banken, Politologen die Politiker, internationale Organisationen erstellen Rankings von der lebenswertesten Stadt bis hin zum korruptesten Staat, Käufer verteilen Sterne für das von ihnen Gekaufte und Touristen entscheiden mit demselben Hilfsmittel über die Zukunft von Hotels, Fluggesellschaften und ganzen Feriendestinationen. So entsteht eine vollkommen neue Darstellung der modernen Welt, die keine Kugel mehr ist sondern eine Excel-Tabelle! Aber auch hier entscheidet "Daumen hoch" oder "Daumen runter" darüber ob man ein glänzendes Krönchen aufgesetzt erhält oder einfach nur eins in die Fresse. Auch wir möchten einem bescheidenen Bereich der Welt auf diese Weise zu neuer Ordnung verhelfen. Und zwar unserer odessitischen Nachbarschaft an der Troitskaya Ulitsa 24. Aus diesem Grund veröffentlichen wir heute unser persönliches Nachbarschaftsranking.

Daumen hoch   /////  Der fünfjährige Junge mit dem grünen Spielzeugauto von nebenan, der eine für hiesige Verhältnisse ungewohnte Geselligkeit an den Tag legt. Vom ersten Tag an ging er bei uns ein und aus als kenne er uns seit eh und je. Fast täglich palavern wir mit ihm, er berichtet uns von seiner grauen, leicht autistischen Katze (meist scheint er sie zu suchen, zwischendurch auch mal bei uns im Schlafzimmer) während wir ihn mit der notwendigen Ernsthaftigkeit über unsere Ersatzteilbestellungen und die Einkäufe und die Hausaufgaben auf dem Laufenden halten. Selbstverständlich ohne dass wir einander auch nur im geringsten verstünden. Wenn seine Mama merkt, dass er wieder ausgebüxt ist und bei uns herumlungert wird er zurückgepfiffen und dann kriegt der Arme einen Rüffel. Wir mögen ihn, er bringt uns zum Lachen mit seinem eigenen, schallenden Gegröhle, welches durch die dicken Wände bis zu uns dringt. Und er scheint hier der einzige zu sein der dem augenscheinlichen Defizit an Sozialkompetenz in unserer Nachbarschaft (Vermeidung von Blickkontakt hat oberste Priorität) etwas entgegenhält.

Daumen runter   /////  Die keifende, alte Hexe von vis-a-vis, die uns von ihrem Balkon im 3. Stock mit Steinen bewirft wenn sie der Meinung ist wir hätten am falschen Ort parkiert und uns wüste Sachen nachruft, die wir glücklicherweise ebenso wenig verstehen wie die Katzengeschichten von unserem kleinen Freund. Zu dieser Zwetschge gibt es eigentlich nichts weiteres zu sagen, ausser dass wir uns gefragt haben ob sie auf ihrem Balkon wohl immer ein Eimerchen parat hat, gefüllt mit Steinen, für alle Fälle...




10. Juni 2012   /////   (St)randbemerkungen
Unsere Füsse hängen in der Luft, staubige Sandalen baumeln daran, drohen hinunterzufallen. Hinunter in den Sand von Odessa, diesen weichen Teppich, der sich vor uns ausbreitet. Das Meer ist glatt und macht einen zufriedenen Eindruck. Unser Blick sticht hinaus zum Horizont, aber nicht nur! Es gibt viel zu sehen! Es ist Samstagnachmittag, Ende Mai. Das Thermometer strebt gegen 30 Grad. Der Sommer schiesst aus vollen Rohren und verkündet seinen Triumph über die winterlichen Bosheiten. Das Volk dankt ihm für seine Tapferkeit und geht baden.

Schlagende
Unter uns, nur wenige Meter entfernt, werden Räder geschlagen. Das Mädchen wirbelt vor unseren Augen im Sand umher, aber ihre noch bleichen Beine wollen nicht so richtig in die Höhe stechen. Eine Freundin, deren Räder runder laufen, gibt ihr Ratschläge, die aber nicht fruchten wollen. In der Nähe schlagen Jungs und Mädchen sich gegenseitig – und zwischendurch auch Unbeteiligten, Schlafenden – den Ball um die Ohren. Ein Kleinkind in einer zu grossen Schwimmweste, das wohl auch lieber Ballspielen würde, wird ins Wasser getunkt und schlägt Wellen. Sein Vater sähe wohl lieber erste Erfolge seiner Schwimmlektionen, wer aber schon einmal versucht hat, in einer Schwimmweste zu schwimmen weiss, dass das arme Kind nicht anders kann als hilflos in seinem Schaumstoffpanzer zu zappeln. Der Vater, nicht ohne pädagogisches Fingerspitzengefühl, ergreift die Initiative und zieht den verdutzten Sprössling am Kragen durch das seichte Wasser. Zwei Mal links, zwei Mal rechts, das muss reichen für heute. Gleich daneben, das Kleinkind ist für solcherlei Szenerien glücklicherweise noch nicht empfänglich, kniet eine pubertierende Schönheit augenaufschlagend im Wasser und lässt sich vom Meerschaum umspülen. Etwas verkrampft formt sie ihr kindliches Antlitz zu einem verführerischen Schmollmund, während ihre Freundin Foto um Foto von ihr schiesst. Ein älterer Herr, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, schlendert schmunzelnd vorbei und betrachtet das Schauspiel sichtlich amüsiert.

Elfe
Und plötzlich vibriert die salzige Meeresluft. Ganz kurz nur und kaum spürbar. Was war das? Ein flüchtiges Etwas streift unser Blickfeld. Ganz aussen, ganz hinten, dort wo man eher spürt als sieht. Es muss ein besonderes Wesen an uns vorbeigehuscht sein. Ob dies eine Elfe war? Wir reissen unsere Köpfe herum. In der Tat! Es präsentiert sich uns eine Aufsehen erregende Erscheinung, von einem fliederfarbenem Nichts umschnürt. Es besteht kein Zweifel, die Natur hat es gut gemeint mit ihr, unsere Hälse sind nicht die einzigen, die sich nach ihr verrenken. Am allermeisten aber scheint sie selbst von ihrer Übernatürlichkeit überzeugt zu sein. Dies zumindest verrät uns ihr stechender Blick, mit dem sie ihre Bewunderer prüft. Dass sich Augen von rundherum auf ihr vereinen verdankt sie jedoch weniger ihrer metaphysischen Ausstrahlung als einer ganz sonderbaren Gestik. Sie rudert mit den Armen als drohe ihr in imaginärem Wasser der Ertrinkungstod. Ob sie versucht durch das Umherschleudern ihrer Tentakel ihre weibliche Opulenz der Schwerkraft zu entreissen und in Schwingungen zu versetzen? Man kennt ja dieses Phänomen von Hängebrücken, die unter der Regelmässigkeit marschierender Menschenmassen immer stärker zu schaukeln beginnen, bis sie von den kumulierenden Energien in Stücke gerissen werden. In High-Heels, abends, in den Alleen der Stadt, würde ihr dies bestimmt mit Bravour gelingen, anmutig würde sie über das holprige Kopfsteinpflaster schweben umgeben von einer strahlenden Aura. Hier und jetzt aber, in Flipflops und im Duft von Schutzfaktor 30, scheitert sie kläglich. In einer Welt ohne hohe Absätze fühlt sie sich ganz offensichtlich nicht zu Hause. Zu viel Bodenhaftung, zu viel Reibung. Das scheint sie nicht gewohnt zu sein. Das müssen Elfen sich auch nicht gewohnt sein, sagt sie sich wohl, das ist nicht unsere Welt! Sie stemmt sich von Schritt zu Schritt als wate sie durch knietiefen Schlamm und verliert den Rhythmus. Mit den Beinen stampft sie Viervierteltakt, mit ihren Tentakeln schiesst sie nervöse Triolen von sich.
Ein eigenartiges Schauspiel. Keine Elfe also, die Odessas Luft verzaubert. Es fehlt ihr an Eleganz und an Raffinesse, an Transparenz und Weichheit. Auch das hastige Fummeln am Flieder, welcher sich vor Scham in die schattigen Hautfalten zurückzieht, trägt zu diesem Urteil das Seinige bei.

Braune
So fliesst die Zeit durch den sengenden Nachmittag. Es wird gebadet und gelacht, gespielt und geschäkert, gerufen und gegessen, wild und kunterbunt durcheinander. Dazwischen haben sich die Liegenden aufgereiht. Auch sie bewegen ab und zu ihre schmorenden Glieder. Sie tragen sie ins eisige Wasser um ihre Körpertemperatur unterhalb des Siedepunkts zu halten. Am späten Nachmittag liegen sie dann kopfüber am Strand. Den Kopf zum Meer, den Rest gegen das Land. Hängende Brüste und kaum verhüllte Schambereiche werden dem Volk auf der Strandpromenade hemmungslos entgegengestreckt. Optimale Bräune verlangt nach optimaler Besonnung, wer kann sich da um landschaftliche Gegebenheiten oder sensible Gemüter kümmern? Die Königsdisziplin der osteuropäischen Bräunungskultur ist aber die Standbräunung. Stoisch wird gestanden, inmitten von Liegenden, Badenden und Spielenden. Stundenlang! In leichter Grätsche, die Arme minimal vom Körper abgewinkelt, den Kopf in den Nacken gelegt. So stehen sie, diejenigen die die Strapazen der Standbräunung auf sich nehmen, regungslos und in sich gekehrt. Auch eine aussergewöhnlich Fettleibige stemmt in dieser Pose ihre Wampe der Sonne entgegen. Sie trägt wie viele andere das knappste aller Badekleider, welches in den Tiefen ihrer Faltungen und Verwerfungen versinkt. Wie ein Fels steht sie im Sonnensturm, wirft ihren Schatten in den Sand und versucht ihrer Physiognomie ein Quäntchen Sex-Appeal einzuverleiben. Komplexe scheinen ihr fremd zu sein, die Freude an der Selbstinszenierung steht ihr hingegen mit grossen Lettern ins Gesicht geschrieben. Dafür bewundern wir sie. Dafür, dass sie inmitten abgemagerter Möchtegernelfen steht und ihnen lauthals verkündet: Ihr könnt mich mal! Wir werden die Dame zu unserem Vergnügen noch häufiger, am selben Ort, in derselben Pose wiedersehen.

Nixen
Im Schatten tummeln sich derweil barbusig die Nixen. Nicht ganz barbusig, excusé! Der Unterschied liegt im Detail! Dieses nämlich, dieses Pünktchen, an dem ihre ganze Weiblichkeit zu kulminieren scheint, dieses oberste Heiligtum ihrer etwas zu hageren Körper haben sie sich tugendhaft mit schillernden Sternchen abgeklebt. Oder sie lassen ihre vorpreschende Üppigkeit unter der wallenden Haarpracht verschwinden. Ganz selbstbewusst stolzieren sie so, im Wissen um den perfekten Sitz ihrer knappen Kleidung und die sittliche Verhüllung des springenden Punktes durch die Menge. Es scheint sich aber das Männervolk, deren Köpfe pflichtbewusste Nixen zu verdrehen haben, nicht einfinden zu wollen. Sonderbar! An eitel gestalteten und schöngeschleckten Jünglingen, die man sich an die Seite solch hiltonscher Wesen denken möchte, mangelt es wahrhaftig nicht! Aber der Nixenclub bleibt unter sich, für heute zumindest, und niemand wird ins süsse Verderben gezerrt. Später fallen irgendwann, von uns unbemerkt, die Sternchen von den Brüsten, die Haare werden von der aufkommenden Brise verweht und es erscheinen unter der Maskerade junge Mädchen, die sich, von ihrer Nacktheit peinlich berührt, die Arme vor dem Oberkörper verschränken und nach ihren Bikinis springen.

Indianer
Anstelle der Jünglinge ereifern sich in der Nähe, aber von den Nixen unbemerkt, erschlaffte Senioren in ihrer kartoffelbraunen Lederhaut. Auch ihre Körperwölbungen werden von wilder Haarpracht verdeckt. Anders als bei den Nixen, deren Mähnen sich verführerisch von ihren Häuptern schwingen um sich sanft über die Brust zu legen, spriesst des Rentners krause Mähne direkt auf ebendieser, während sein glänzender Skalp das Firmament über Südosteuropa wiedergibt. Sie geben sich dem Sport hin, die Senioren. Sachte nur, zu heiss ist es, als dass sich diese überreifen Früchte starker Belastung aussetzen dürften. Man übt sich im Erhalt der Beweglichkeit. Es wird gedehnt und gewippt, gedreht und gereckt. Die regelmässige Pflege der Geschmeidigkeit von Bändern und Sehnen ist nicht ohne Wirkung geblieben. Gegen manch einen dieser Veteranen wären wir es, die im direkten Vergleich alt aussähen. Und doch können wir, man verzeihe uns spöttischen Geistern die böse Zunge, nicht umhin uns zu fragen, ob am Ende die Ertüchtigung das Mittel oder der Zweck ist, ob dieses skurrile Schauspiel nicht doch eher eine Demonstration spät gediehener oder gut erhaltener Eitelkeit ist.

Aufbruch
Perlmuttfarbenen wiederspiegelt das Meer mittlerweile die letzten Reste des ausgehenden Tages. Schatten fällt über das sandige Paradies, es beginnt sich rasch zu leeren. Die Scharen stürmen davon, auch die Fischer, die auf der Sandbank vor dem Strand im hüfttiefen Wasser ihre Ruten schwangen, kehren zurück. Rot- und braungebrannte Rücken werden in luftige Sommerkleider und buntgemusterte, weite Hemden gehüllt wie man sie allerhöchstens im Urlaub trägt. Sand wird aus Schuhen geklopft, Bälle in Rucksäcke gesteckt und Kinder und Utensilien werden zusammengesucht. Es ist kaum halb sieben und wir sind fast die einzigen, die sich noch nicht zum Aufbruch entschieden haben. Langsam übernimmt die Tierwelt die Oberhand. Möwen und Tauben hinterlassen ihre Spuren im Sand, auf der Suche nach Verwertbarem, das ihnen die Horde überlassen hat. Auch die Hunde, die tagsüber wie umgekippte Pappfiguren im Schatten lagen, melden sich zurück und machen sich auf die Suche nach ihrem Nachtessen. Die Radschlagenden und Badenden, die Liegenden und Spielenden, die Nixen und die Indianer und mit Bestimmtheit auch die Elfe, sie alle sind längst anderswo, machen sich daran ihre sonnengefluteten Körper auszuführen – vorzuführen – im abendlichen Stelldichein in den unzähligen Cafés, Bars und Clubs der Stadt, wenige Meter nur vom menschenleeren Strand entfernt.




29. Mai 2012   /////   Merry go round
Tagtägliche Erörterungen höchst intellektueller Fragestellungen in unserer Kleinklasse, Fach Russisch, während den Hausaufgaben:
„Das I ist doch das N, oder?“ „Nein, das H ist das N!“ „Das H gibts gar nicht, das ist doch das G?“ „Hmm…“    /////    „Wie geht schon wieder das R?“ „Das R ist das P.“ „Das P ist doch das Pi.“ „Und das R ist das P.“ „Ah, ja, stimmt.“   /////    „Wie schreibt man врач?“ „Mit B.“ „Nicht mit V?“ „Doch mit V, aber das ist das B!“ „Also mit V.“




25. Mai 2012   /////   Урок 3¾
Weiteres, in ausserschulischem Rahmen angegeignetes Vokabular dieser zu Ende gehenden Woche: такса (der Dackel), бешенство (die Tollwut) und вакцинация (die Impfung).




24. Mai 2012   /////   Урок 2-4
Ohne Kompromiss ist das A4 Blatt in Weiss nicht zu haben. Aber solange unser Sprachniveau dem der Heftzielgruppe entspricht...
Die erste Woche Russischkurs ist vorbei, wir haben zwanzig Verben durchkonjugiert und können uns in der Gegenwart und in der Vergangenheit gewandt ausdrücken. Wir können die Druckschrift lesen, sowie in der Handschrift schreiben. Die Wochentage, Uhrzeiten und Berufe haben wir im Griff, Gemüsesorten sind uns geläufig, Akkusativ und Genitiv sind uns schon begegnet. Pro Tag sprechen wir mindestens eine Stunde russisch zusammen. So. Wochenend und Sonnenschein, mein Herz gehört nur dir allein, Wochenend und Sonnenschein!




16. Mai 2012   /////   Helden in Overalls
Sergej hat gestaunt, ganz bestimmt! Auch wenn wir es leider nicht gesehen haben. Den Kurbelwinkelgeber hielt er nach drei Tagen in seinen Händen, einen Tag später hatte er ihn eingebaut. So weit, so gut, alsdann überkam den netten Herrn die Ratlosigkeit, über die er uns, über unseren Motor gebeugt, informierte. Das teure Teil hat die von ihm vorausgesagte und von uns erwünschte Wirkung auf ganzer Linie verfehlt, mit andern Worten: unser Defender macht nach wie vor keinen Wank. Sergejs Ratlosigkeit verliess ihn nicht, dafür aber verliess ihn unser Auto, per Sattelschlepper. Es steht mittlerweile bei seiner Konkurrenz, der Spass geht von vorne los. Diesmal heisst unser Held Aleksej und spricht fliessend Deutsch. Was will man mehr? Vielleicht ein funktionierendes Auto? Ach, wir wollen nicht unverschämt werden.
Während in den Werkstätten die Schraubenschlüssel flogen, streiften wir entzückt durch Odessas Alleen und haben die Stadt noch mehr lieb gewonnen. So kommt es - ein Hoch auf sorgfältige Planungen! - dass wir hier und jetzt, ziemlich genau einen Monat nach unserem Aufbruch, den Fuss vom Pedal nehmen. Er bewirkt dort momentan ohnehin nichts. Es ist Zügeltag, vom Hotel in unsere Zweizimmerwohnung. Hier bleiben wir vorerst, etwas präziser ausgedrückt: bis Anfang Juli. Wir verpassen dadurch den Eurovision Song Contest in Baku, der auf unserem Festivalprogramm stand, erleben dafür die EURO2012 hautnah. Was uns in den nächsten Wochen aber stärker beschäftigen wird als vergeigte Bälle ist die russische Sprache, die wir uns zumindest bruchstückhaft aneignen möchten. Nicht nur um in den folgenden Ländern bessern gewappnet zu sein angesichts der zu erwartenden Diskussionen über Dieselmotoren und ihre Macken, sondern auch ganz einfach um unsere Hirnmasse schön geschmeidig zu halten.




12. Mai 2012   /////   Hafencity
Ein Hafenkran, das ist eine feine Sache. Er versprüht Meeresduft und Weitsicht. Salz im Haar und Möwenscheisse. Die Nase stets keck in den Wind gereckt. Er steht für den Aufbruch, für die Sehnsucht und den Blick zum Horizont. Wer einen Hafenkran hat, der fährt hinaus. Der hat verstanden: es kommt kein Abgrund, die Erde ist eine Kugel, nicht eine Scheibe. Fährt hinaus, fährt immer geradeaus und rollt am Schluss das überraschte Feld von hinten auf. Wer einen Hafenkran hat, ist den andern immer eine Nasenlänge voraus und hat seine Freunde auf der ganzen Welt verstreut. Mondän ist er, der einen Hafenkran hat, das samtene Kleid aus rostigem Rot steht ihm prächtig, ganz ohne Glanz und Gloria.
Natürlich braucht nur einen Hafenkran, wer einen Hafen hat. Wessen Wasser die Welt umfliesst. Alles andere macht keinen Sinn. Niemand stellt aus Spass einen Hafenkran in den Rasen vor seinem Häuschen. Gräme dich nicht, liebes Züri, es hat noch lange nicht jeder einen Hafenkran. Freunde hast du trotzdem auf der ganzen Welt. Diese schlecken dir sowieso viel lieber die Schokolade von den Fingern als dass sie auf deinen rostigen Kran klettern. Und deinen grossen Auftritt auf der Weltbühne der schönen Künste hattest du ja bereits im letzten Jahrhundert.




12. Mai 2012   /////   Schuhe
Unglaublich hoch sind sie, die Schuhe hier. Kreativ sind die Formen. Bändel, Schnüre oder Reissverschlüsse halten sie zusammen. Plateau oder Stiletto, beides in Mode. Frech in den Farben oder abgestimmt auf die Handtasche oder das Kleid. Die Frau steht in der Mitte, hoch über dem Boden, elegant und selbstbewusst. Laufen will gelernt sein. Und ist es auch. Ob mit Kleinkind, Taschen oder anderem beladen, ob flanierend oder schnellen Schrittes, fast nie verliert die Frau das Gleichgewicht. Wenn sich doch eine Unregelmässigkeit in das Klackern der Schuhe einschleicht, dann hat bestimmt ein fieser Pflasterstein die Hand im Spiel gehabt.
Vor uns huscht eine Dame in Weiss mit roten Pumps und rotfarbenem Taillenband vom Brautladen ins bereitstehende Auto. Der Frühling in seiner vollen Hitze lullt die Stadt ein und es wird geheiratet. Brautpaare posieren in der Stadt wie auf dem Land an schönen Plätzen, zwischen den Bäumen im warmen Licht der Abendsonne, an der Pier im Hafen. Und auch hier wieder, Schuhe wie Gedichte.




10. Mai 2012   /////   Odessa
Odessa, alte Schachtel, unsere Worte können deiner Schönheit nicht gerecht werden. Wir lassen es bleiben, lassen die Gedanken in unseren Köpfen kreisen, ungeschrieben, und geniessen jede Minute, bis du uns weiterziehen lässt.




9. Mai 2012   /////   Alte Herren
Im Schewtschenko-Park sind tausende von Leuten. Auffällig viele sind in Militäruniform gekleidet, in neuen aber auch in offensichtlich uralten und nicht nur in den tagtäglich überall und zu jeder Gelegenheit gerne getragenen Tarnanzügen. Junge Matrosen ziehen in abverheiter Formation vorbei, Fahnen werden durch die Luft geschwenkt. Ordenbehangene, alte und ältere Herren stehen herum. Musik ist zu hören und Ambulanzen stehen bereit. Und Blumen, überall Blumen. Alle haben sie Blumen dabei. Blühender Flieder vom Busch gleich nebendran, Nelken und anderes vom Blumenverkäufer, die Kinder und die Erwachsenen und auch die Halbstarken zu denen dies gar nicht so richtig passen will.
In den Staaten der ehemaligen Sowjetstaaten wird heute der Tag des Sieges gefeiert. Es jährt sich zum 67. Mal der Sieg über Nazideutschland, welcher am 9. Mai 1945 um 00.16 Uhr in Berlin besiegelt wurde.
Auf dem Boulevard zur Siegessäule beginnen wir den Rummel zu verstehen. Die alten Herren – die einen leicht gebückt vom Gewicht ihrer langen Leben, die andern noch immer mit stolzem Haupt und durchgestrecktem Rückgrat – sind die noch lebenden Weltkriegsveteranen. Sie stehen mit sichtlichem Stolz in der Mittagshitze (deshalb die Ambulanzen), in Begleitung ihrer Familien, drei oder vier Generationen vereint. Die Welt von heute feiert ihre Helden von gestern. Die Passanten verteilen den Senioren die mitgebrachten Blumen, zollen ihnen auf diese Weise Respekt und Dankbarkeit. Es ist herzzerreissend. Wir, die wir Patriotismus und Nationalstolz eher mit Vorsicht geniessen, die wir aus einem Land kommen, dessen Helden vor über 700 Jahren und ohnehin im Reich der Legenden gelebt haben, sind fast zu Tränen gerührt angesichts dieser einfachen, aber würdevollen Geste. Zu Ehren derer, die nicht mehr sind, wurden Denkmäler errichtet, auch diese verschwinden wie die alten Herren nach und nach unter einem prächtigen Blumenmeer. Ein Wenig abseits steht alleine eine alte, zerzauste Dame, etwas schäbig gekleidet, ein Bein eingebunden. Aber auch sie trägt eine stattliche Ordensammlung auf ihrer Brust. Und auch sie hat viele Blumen erhalten. Im Vorbeigehen betrachten wir sie, wie sie etwas verloren unter einem Baum steht, und rätseln, was wohl ihre Geschichten sind, die sie ihren Enkeln und Urenkeln erzählt.




8. Mai 2012   /////   Kurbelwinkelgeber
Er ist es, der Bösewicht. Er misst den Winkel der Kurbelwelle und gibt ihn an die Bordelektronik weiter, damit diese jeden der fünf Kolben zur richtigen Zeit feuern kann. Normalerweise ist er kein Problemkind. Wenn er aber nicht mehr geht, geht nichts mehr. Sergey und seine Mannen von der Landrover-Garage haben dies herausgefunden und es uns kurz vor Mittag mitgeteilt. Schwierig sei es so ein Ding aufzutreiben, zwei bis drei Wochen werde es dauern. Mitte Nachmittag tauchen wir bei ihm auf, er macht ein langes Gesicht und spricht von „big problem“: Er schaffe es nicht, das Ersatzteil aufzutreiben. Nachdem wir uns versichert haben, dass neben der Beschaffung keine weiteren "big problems" bestehen, die wir überhört haben könnten, klären wir ihn auf, dass das Teil in drei bis vier Tagen bei ihm eintreffen werde. Seine kühle Verkäufervisage gerät in Schieflage, er übersetzt für seine nicht englischkundigen Kollegen. Er scheint uns nicht zu glauben, vielleicht ist er auch ein wenig in seinem Sales-Manager-Stolz verletzt. Aber er kennt natürlich unseren Krisenstab in der Heimat nicht und kann nicht wissen, dass René das Teil bereits bei Emil Frey bestellt hat, Edi schon auf dem Weg dorthin ist um es abzuholen während Eliane die schnellsten Versandoptionen ausfindig macht. Ob DHL es schaffen wird, unser Päckli in drei Tagen nach Odessa zu fliegen werden wir sehen. Aber Sergey wird staunen, auch wenn es eine Woche dauern wird. Und wir sitzen im Cafe und können nichts zur Lösung unseres Problems beitragen.




7. Mai 2012   /////   Stillstand
Eine Asphaltebene liegt vor uns, mit Berg- und Wellental, mit weichen Übergängen, geschaffen von der Hitze der Sonne, wenn der Asphalt weich wird und sich aufschiebt. Mit abrupten Übergängen, Schlaglöchern, fehlendem Asphalt. Tramgeleise überqueren ist eine gefühlte Bergbesteigung, vier Räder mal vier Schienen, sind sechzehn Berge. Der Fahrer neben uns sieht jede Unregelmässigkeit kommen, umfährt gekonnt die fehlbaren Stellen, die Bewegung unseres Defenders hinten oben minimierend und seinen Abschleppwagen schonend. Rechts wie links wird überholt, wir aber halten die Linie, kein Ausweichen, nur ein kleiner Richtungswechsel, wenn der Strassenverlauf denselben vorgibt.

Eine halbe Stunde später sitzen wir, schon wieder, in der spiegelnden Lounge einer Landrover-Vertretung, dieses Mal in Odessa. Und schon wieder betrachten wir aus Langeweile die wunderbaren Traumwelten die der englische Konzern für seine Anhängerschaft schmiedet. Nach aussen hin buhlen Hochglanzlack, schwarzer Gummi, hohe Absätze und kleine Schwarze um Aufmerksamkeit, verkauft aber wird Sand und Schlamm und tiefe, breite Spuren darin. Testosteron in grossen Mengen. Nicht wenig scheint bei Marlboro-Man abgekupfert. Wildnis pur, aber kultiviert, ich bitte Sie, meine Herren. Unsere eigene Landroverwelt sieht zur Zeit weniger üppig aus. Nach dem sonntäglichen Gelegenheitsshopping im OBI in Odessa – wir übten uns in der Erforschung lokaler Gepflogenheiten – spuckt der Defender noch kurz schwarzen Rauch, dann gar nichts mehr. Und so schauen wir uns jetzt, nach Abschluss der morgendlichen Bergeaktion, in weissen Ledersesseln Filme von wilden Fahrten durch exotische Salz- und Sandwüsten an und betrachten wie die Putzfrau ihren Mop pathetisch durch die ohnehin saubere Halle schwingt, die Mechaniker sich ratlos über unseren Motor beugen und wie die Verkaufsbelegschaft mangels Interesse an ihren Wagen den flauen Montag mit debilen Computerspielen und schlüpfrigen Bildchen hinter sich zu bringen versucht. Während unser Auto von drei kräftigen Jungs in die verglaste Werkstatt hinter uns geschoben wird, fragt uns unser persönlicher Betreuer, der zu unserem Glück vorzügliches Englisch spricht, ob wir beim letzten Mal Auftanken auch wirklich Diesel getankt hätten.


4. Mai 2012   /////   Simferopol (griech. symfero, Sammelstadt od. Stadt des Nutzens)
Die Hauptstadt der autonomen Republik Krim ist eine Stadt, die für einmal ganz unspektakulär daherkommt. Ohne Hafen, wohl aber mit einer Geschichte, ohne nennenswerten Tourismus, in den Reiseführern als Verkehrsknotenpunkt und Durchgangsstadt erwähnt. Simferopol gefällt uns, wir gehen im Treiben unter und sind nicht primär Touristen sondern Besucher eines Ortes.




3. Mai 2012   /////   Präsentli
Sandra wünscht sich ein A4-Papier und ein schönes Hotel zum Geburtstag. Sie kriegt das schöne Hotel. Mit Kronleuchter, Parkett aus echtem Holz, Bademantel und Wellness-Regendusche. Der Regen ist Luxus, die Dusche brauchen wir heute - nach der Geburtstagswanderung auf den Chatyr Dah - vor allem der Sauberkeit wegen. Kleiderwäsche ist angesagt, wir stampfen sie während dem Duschen sauber, wie die Winzersfrauen früher den Wein. Das hat den Vorteil, dass Kleider und Füsse in einem Waschgang sauber werden. Und ist auf jeden Fall schonender für die feinen Stoffe als das Freiluftwaschprozedere am Strand: Tunken, mit Sand und Kies vermischen, schrubben, spülen, wringen, in den Wind halten zum Trocknen.
Und so gibt’s für Sandra zum schönen Hotelzimmer auch noch frisch duftende Wandersocken zum Geburtstag. Fehlt noch das A4-Papier.


2. Mai 2012   /////   Yalta
Unser Reiseführer belehrt uns zum wiederholten Mal auf seine zynische Art über die nicht zu übertreffende Hässlichkeit der sowjetischen Hotelkästen. Wir staunen ob der harschen Kritik gegenüber den teilweise visionären Bauten und versuchen uns mit dem postsowjetischen, neobarocken Gips- und Plastikfirlefanz anzufreunden, der wohl eher den Geschmack des Autors trifft. Es misslingt.
Zu Sowjetzeiten war die Krim das Plätzli an der Sonne für die Genossen. Aber auch heute noch ist sie gemäss Broschüre „eine der bemerkenswertesten Stellen auf der Erde“ und wird „nicht selten die Welt in Miniatür genannt“. Yalta ist das touristische Zentrum dieser Miniatürwelt. Hier wurde Weltgeschichte geschrieben, als im Jahre 1945 an der Yalta-Konferenz Deutschland und Berlin unter den Grossmächten aufgeteilt wurden. Von politischer Relevanz ist Yalta nicht mehr, ein beliebter Urlaubsort aber mehr denn je. Noch reihen sich entlang der Küste die alten, eleganten Sanatorien aneinander, sie muten in Zeiten von Wellness und Lifestyle aber sonderbar altertümlich an und versprühen den Charme von Blutspendezentren.
Im Stadtzentrum wird hingegen am postsowjetischen Urlaubskitsch gehämmert und gefeilt. Ein bisschen Nizza hier, ein wenig Barcelona dort. Man spürt, hier wird Grosses angestrebt, auch wenn es in erster Linie das grosse Geld der Sonnenhungrigen ist. Dann, am Abend, beginnt Yalta zu funkeln. Die LED-Technologie bringt allerlei bunt blinkende Abscheulichkeiten hervor, die der Stadt eine Erscheinung geben, die zwischen Dorfchilbi und Science-Fiction-Film oszilliert. Man ist auf den Gassen. Wer irgendwas anzubieten hat bietet dies an. Es wird von den Vergnügungsdurstigen mit grosser Dankbarkeit gegen die Bezahlung von einigen Grivnas aufgesaugt: Man lässt sich mit allerlei Getier fotografieren, zaubert Riesenseifenblasen, dreht Runden mit einem funkelnden Motorboot oder bestaunt durch das Teleskop eines geschäftstüchtigen Rentners den Mond. Den Kindern, die mit blinkenden Rollschuhen die Passanten umkurven, kauft man buntes Schleck- und noch mehr Blinkzeug. Wir kehren ein, gönnen uns einen Happen abseits des Rummelplatzes und sind beruhigt, dass auch in Yalta die Gurken noch grün, der Wodka klar und der süsse Wein rot ist wie unser Auto.


1. Mai 2012   /////   Im Kies
Millionen von kleinen runden Kieseln liegen da, hart im Einzelnen, weich im Ganzen. Der weiche Teil ist der, der uns betrifft, unsere Räder wollen sich gerade eingraben. Christian setzt zurück und versucht es von Neuem. Nach ein paar Metern hat die Kraft das Auto wieder verlassen oder hat nur Kiesel beschleunigt. Die spicken dann rum oder packen andere Strandbesucher in eine Staubwolke. Voll peinlich. Ich laufe neben dem Auto her, melde wie tief wir stehen, welche Räder spulen oder versuche die nett gemeinten Ratschläge der ukrainischen Familienväter zu übersetzen. Schlussendlich haben wir es doch noch dank der einrastenden Differentialsperre geschafft, das Kieselmeer zu verlassen. Ewig langsam geht dann so eine Kieselfahrt. Fast wie in den Träumen, in denen man nicht vom Fleck kommt.




30. April 2012   /////   Meeranstösser
Im duftenden Thymianfeld, an steilen Klippen, hoch über dem Meer oder im Sandgestöber am Strand. Mal sind wir mutterseelenallein, mal umgeben von jungen Ukrainern und ihren vierradangetriebenen Musikanlagen und ein andermal ist ein wildes Kommen und Gehen bis weit in die Nacht hinein wenn wir, wie in Sevastopol, einen Ort erwischt haben, an den die Stadtbuben mit Papas Wagen ihre Mädchen ausführen um ihnen den Sonnenuntergang und andere schöne Dinge des Lebens zu zeigen.

Wir besetzen Orte, nehmen sie in Beschlag für eine Nacht oder zwei. Am Anfang kamen wir immer erst kurz vor dem Eindunkeln. Bloss kein Aufsehen erregen, wer weiss wem die Wiese, der Wald, der Strand gehört. Es könnte ja sein, man will ja nicht… und wir stellten uns vor wie lange wir wohl Ruhe hätten, wenn wir unser Lager auf der Marziliwiese aufschlügen. Bislang hat sich aber niemals auch nur eine Menschenseele um unsere Anwesenheit geschert und so okkupieren wir mittlerweile selbstbewusster.

Es ist ein Hin und Her, wir gehen gefühlte hundertzwanzig Mal ums Auto, bis unser Schlafzimmer eingerichtet ist: Kisten dahin, Eimer dorthin, Vorzelt aufbauen, Wasserkanister unters Auto, Matratzen aufblasen, Schlafsäcke entwirren, Vorzelt wieder abbauen, da der Wind es nach Amerika zu blasen versucht. Dann liegen wir, meist leicht schief zu irgendeiner Seite, bugsieren noch die letzten Käfer – zur Zeit begleitet uns eine Kolonie Marienkäfer, die in unserem Auto ihren Nachwuchs aufzieht – nach draussen. Es zieht, ist kalt, bloss nichts berühren was nicht innerhalb des Schlafsacks liegt.

Am Morgen aber treibt uns die Sonne den Schweiss auf die Stirn. Der Schlafsack muss weg, der Faserpelz und alles andere auch, was wir im Laufe der Nacht über uns gestapelt haben. Die Scheiben sind beschlagen, es tropft. Hätte uns nicht die Sonne geweckt, so würden es die Möwen tun, die uns Eindringlinge umkreisen. Hektisch, als hätten sie Angst, wir machten ihnen ihren Frühstücksfisch streitig. Das Schlafzimmer wird rückgebaut, es gibt frisches selbstgebackenes Brot und Espresso. Dazu einen unvergleichlichen Blick hinaus zum Horizont, dorthin wo schon bald wieder die Sonne verschwinden wird, während sich Heranwachsende zu diesem Spektakel vergnügen. Demjenigen Spektakel übrigens, welches dank Dutzenden von Delfinen, die vor dem versinkenden Feuerball vorbeizogen, fast unerträglich kitschig (Christian) – „Was hast du gegen Kitsch?“ (Sandra) – war und üble Erinnerungen an leuchtende T-Shirts aufkommen liess, an denen wir in den Achtzigern unsere Freude hatten.


26. April 2012   /////   Stift
Defender schreit nach Aufmerksamkeit. Er will Streicheleinheiten. Um ein Haar verlieren wir die rechte Hintertüre, ein gebrochenes Scharnier. Den Grauholzstutz hat es fabelhaft gemeistert, unser Gefährt, aber osteuropäische Schlaglöcher mag es nicht sonderlich. Es macht es uns den Einstieg ins Thema „Autoreparatur International“ allerdings recht einfach. Es fährt und dank Spannset bleibt auch die Türe wo sie hingehört. Also auf zum Landroververtreter in Simferopol. Aleksander kümmert sich um uns. Er spricht kein Wort Englisch, wir ebenso wenig Ukrainisch. Aleksander ist einer der angenehmen Menschen die, wenn einmal klar ist, dass auf gesprochener Ebene keine Kommunikation stattfinden kann, nicht einfach weiter auf einen losdrischt. Er schaut sich an, was wir ihm zu zeigen haben, versteht, sagt nickend zu sich selber "Stift", fragt „ Kofe, Tchai?“ und entlässt uns in die Obhut von Aleksandra, der kurzbeschürzten Vorzeigedame die durch den blankgebohnerten Showroom klackert. Nach zwei Stunden Klackern holt er uns mit einem knappen „Ok“ wieder ab. Die Türe sitzt, es sieht, ganz ehrlich gesagt, etwas gebastelt aus, Aleksander versichert uns aber mit Hilfe eines Online-Übersetzers, dass seine Konstruktion halten wird und führt uns zur Kasse. Voilà, was will man mehr. Zur Belohnung für unser erfolgreiches Krisenmanagement gönnen wir uns ein anständiges Stück Grillfleisch im Zentrum Simferopols. So geht das.




25. April 2012   /////   Busper
Um skeptische Geister zu überzeugen, dass wir nach wie vor fit und munter sind, wenn auch schlecht frisiert, rasiert und spärlich geduscht.




22. April 2012   /////   Odessa
Die Perle am schwarzen Meer wurde von Katherina der Grossen in Auftrag gegeben und ist im 19. Jahrhundert als wichtige Hafenstadt zu dem geworden was sie heute ist. Die grosse Welt ist hier zu Gast. Pariser Eleganz bestäubt mit süssem Wiener Pastell. Den (post-)kommunistischen Mantel hat Odessa weit von sich geworfen, darunter kommen hohe Absätze, kurze Kleidchen, Mondänität und Stolz in rauhen Mengen zum Vorschein. Wir fahren jetzt auf die Krim, aber wir kommen wieder, da von Odessa unser Schiff nach Georgien fährt. Wir freuen uns schon jetzt.


Exkurs   /////   Transnistrische Behördengänge
1. Einreise Transnistrien
Beamter Nummer 1, ein Moldawier, steht im Schatten seiner Hutkrempe und will uns zurückschicken. Er wird nicht der letzte sein, der dies versucht. Sie alle haben recht, aber wir meinen es besser zu wissen. Nach Odessa nähmen wir besser den andern Weg, denjenigen, der nicht durch Transnistrien führt. Wir machen ihm jedoch klar, dass wir genau dies vorhätten und er lässt uns grinsend gewahren.
Beamter Nummer 2, der transnistrische Zollbeamte, der mich an Monty Python erinnert und einen ausgesprochen schlecht gestutzen Schnurrbart hat, versucht ein paar Hundert Meter weiter ebenfalls uns zur Umkehr zu bewegen. Zu viert reden sie auf mich ein - einer kann ein paar Brocken Englisch - der andere Weg sei viel schneller, koste weniger, weniger Grenzübertritte, usw. Ich insistiere, worauf er mich resigniert ins Büro bittet und die englischsprachigen Formulare aus einer Schublade kramt. Er diktiert mir fürchterliche Sätze, die ich aufs Formular notieren muss: „Undertake remove transport facility within a period of 18.6.2012“. Oder: „About responsability article 346.353.etc. Customs Code Transnistdrian Moldovan Republic it is warned.“ Ich setze meine Unterschrift unter diese Phantasiegebilde obwohl sich mir deren Bedeutung erst später erschliesst, als ich das Formular noch einmal in Ruhe betrachte.
Beamte Nummer 3 und 4, Polizei und Militär, machen keine Probleme, zwischendurch werde ich gefragt, ob wir unseren Wagenheber kurz ausleihen könnten. Beide tippen wieder unsere Pässe ab. Es wird wohl alles seine Notwendigkeit haben.
Zwei Stunden dauert das Cabaret, wir amüsieren uns köstlich und ahnen noch nicht, dass das transnistrische Unterhaltungsprogramm noch nicht zu Ende ist.

2. Polizeikontrolle Transnistrien
Wir fahren zirka 20 Minuten nach Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens. Die Polizeikontrolle könnte nicht besser platziert sein. Die Kreuzung ist für Ortsunkundige fast nicht zu befahren ohne dass man sich ganz unvermittelt auf der falschen Seite der Sicherheitslinie wiederfindet. Selbstverständlich tun dies auch die Einheimischen, herausgewunken wird aber, wen überraschts, der rote Landrover der nach viel Geld aussieht. Die zwei Polizisten sprechen beide kein Wort Englisch und lassen sich deshalb per Natel einige Wörter - wie zum Beispiel „straf“, welches ich partout nicht verstehen will - von einer Dame im Internet nachschlagen. Nach rund einer Stunde und den verschiedensten Drohungen die ich mir anhören muss, einigen wir uns darauf, dass ich die 100 Euro Busse, die mein Vergehen nach sich zieht, mit der Zahlung von 400 moldawischen Lei und 50 Schweizer Franken abgegolten ist. Selbstverständlich erhalte ich eine Quittung, ein grünes Zettelchen mit einem unleserlichen Chribel drauf.

3. Ausreise Transnistrien
Ich werde in ein kleines Büro gebeten, wo mich zwei Herren zuerst genauestens zu unseren Absichten und Reiseplänen befragen. Den Hinweis, dass in unseren Pässen nichts von journalistischen Tätigkeiten steht, nehme ich zur Kenntnis, habe ich auch nicht behauptet. Es folgt ein Geschichtsexkurs über Transnistrien; ein Land, von dem Europa angeblich noch nicht weiss, dass es existiert. Das Land habe zwar einen Freundschaftspakt mit Moldawien, aber kann uns den Ausreisestempel (Moldawiens!) nicht geben (logo, ist ja auch Transnistrien). Folgedessen der Ratschlag der beiden Herren: Zurück zum Start, andere Route wählen. Und den Hinweis, dass die Ukraine 200m weiter hinten liegt.
Ein paar Wortwechsel später und mittlerweile mit einer Strassenkarte auf dem Tisch wage ich die Frage ob es denn nicht noch eine andere Möglichkeit gibt, als den ganzen Weg wieder zurück zu fahren?! Doch, doch, 150.- Euro Gebühr bei der Bank einzahlen gehen und dann ist die Grenze offen. Leider hat um diese Zeit keine Bank mehr geöffnet. Wieder zurück zum Start. Barzahlung? Ja doch. Aber ich habe keine 150.- Euro. Wieviel ich denn habe? 40.- Euro meine Antwort. „Okay, you pay 40.- Euro and he will close his eyes“, was der andere Zöllner dann auch als Geste vorführt. Ein Grinsen unterdrückend gehe ich zum Auto und hole das Geld, lege es auf den Tisch und weiter geht die Fahrt.

4. Einreise Ukraine
Eine letzte "Gebühr" gilt es zu bezahlen: ein paar Euros für eine Haftpflichtversicherung, die wir eigentlich schon haben. Einen Beleg gibt es nicht, das Kürzel des Zöllners auf der Grünen Karte muss reichen. Hier steht nun unser Auto plötzlich im Zentrum des Interessens. Wir öffnen Kisten, zeigen den Zöllnerinnen Bücher, Motor und Werkzeuge - und werden gefragt, ob wir Seemannsknoten machen können. Die Neugierde ob unserem Gefährt überwiegt.




20. April 2012   /////   Staaten und anderes
Eine rätselhafte Grenzführung zwischen Rumänien und der Ukraine zwingt uns zu einem Abstecher nach Moldawien. Wir nehmen dankend an und holpern über strassenähnliche Flächen durch weite Ebenen, gespickt mit Dörfern, die wie Kulissen aus vergangenen Zeiten entlang der Strasse aufgereiht sind. Pferdegespanne begegnen uns, Hirten beäugen ihre bunt gemischten Schaf-Geiss-Kuhherden auf den Weiden. Trotz der Armut, von der dieses Land ganz offensichtlich geplagt wird, strahlt es eine erfrischende Freundlichkeit aus. Die Kulissenhäuser sind frisch und bunt gestrichen, entlang der Strasse werden kleine Gärtchen gehegt und gepflegt. Kinder vergnügen sich mitten auf der Hauptstrasse, es gibt wenig Verkehr und dieser ist angesichts der Anzahl und der Tiefe der Schlaglöcher gemächlich unterwegs. Tiere überall. Nutztiere. Haustiere sind ein Luxus, den man sich hier nicht leistet und Hund und Katze streunen sowieso überall umher. Am Morgen – wir haben auf einem Feldweg zwischen Bäumen übernachtet und schieben uns grad unsere zwei letzten Täfeli Lindt&Sprüngli in den Mund – werden Arbeiter und Arbeiterinnen mit offenen Lastwagen auf die Felder gekarrt. Sie schneiden blühende Zweige von den Bäumen, die wenige Tage später wohl westlichen Wohnzimmern Frühlingsstimmung einhauchen werden.
Und dann, mitten in dieser Idylle (die wohl nur von uns als solche angesehen wurde), in einer langgezogenen Linkskurve ein Grenzposten. Eine Grenze, die in unserer Karte nicht zu finden ist. Die in keiner Karte zu finden ist. Mit der wir nicht gerechnet haben. Transnistrien, ein Teil Moldawiens, der sich seit Beginn der 90er Jahre in Separatismus übt. Ein Land, das es nicht gibt. Anerkannt nur von sich selber und von der Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten. Die Welt glaubt nicht an Transnistrien, die Transnistrier dafür um so mehr. Sie haben sich alles geschaffen was ein funktionierender Staat braucht: eine Grenze, eine Regierung und ein Parlament, Behörden, eine Währung und eine funktionierende Marktwirtschaft die auf Geschäftszweigen wie der Geldwäscherei und dem Waffen- und Menschenschmuggel basiert. Auch die Korruption ging nicht vergessen, wir machen während unserer rund viereinhalbstündigen Transnistrien-Querung (davon ca. 3 Stunden an den beiden Grenzen und 1 Stunde bei der Polizei) gleich mehrfach damit Bekanntschaft.




18. April 2012   /////   Endlich Meer
Cernavoda heisst der Ort. Dies bedeutet "Schwarzes Wasser". Wieder einmal wählen wir einen potentiellen Schlafort nach dem Klang seines Namens aus. Hübsch stellen wir ihn uns vor, lauschig am Wasser gelegen. Nach dunklen Strassen durch den Wald ist es aber plötzlich taghell. Alles abgesperrt mit hohen Zäunen, Fotografieren ist verboten. Wir stehen vor Rumäniens einzigem Kernkraftwerk, das - wie so manches im Lande - nie wirklich fertig gebaut wurde. In Betrieb ist es trotzdem. Und geheim. Wir schielen verstohlen durch Gitterzäune und halten Ausschau nach den Menschen mit leuchtenden Köpfen und den Hunden die surrend über den Asphalt schweben. Ein richtiges Abenteuer! Unheimlich, schnell weg!
Weiter nach Constanta, eine Hafenstadt am Schwarzen Meer. Sie versprüht den Charme einer ostrumänischen Stadt, die zwischen nicht fertig Gebautem und alten Zeitzeugen doch im Heute steht. Das alte Casino direkt am Meer erzählt eine alte Geschichte, gehört aber mittlerweile den Tauben. Hunde, einzeln oder in Rudeln, sind allgegenwärtig. Einzigartig dafür die Polizei im schwarzmatten Audi, die schaut, dass nichts Unrechtes geschieht. Wir bleiben eine Nacht, länger nicht, dafür in einem Prinzessinnenzimmer. Es ist kalt, nass und windig. Im Auto ist es warm, weniger nass und wir hören gute Musik. Weiter gehts.




15. April 2012   /////   Transilvania-Express
Where are you going to? Fragt der rumänische Zöllner. Kurzes Überlegen, gute Frage. Ziele haben wir viele, sie alle aufzuzählen ist aber sicher nicht in seinem Interesse. Mongolia! Verdutzt schaut er auf und wirft uns einen fragenden Blick entgegen. Not today, beruhigen wir ihn. Aha! Dies scheint unser Vorhaben plausibler zu machen und er streckt uns lachend unsere Pässe entgegen.
Weiter geht’s, mit hundert Sachen über holprige Landstrassen. Im tanzenden Licht unserer Scheinwerfer fliegen wir durch die dunstige Aprilnacht, an Ortschaften vorbei mit wohlklingenden Namen wie Sannicolau Mare, Alba Iulia oder Timisoara. Unsere Ohren und unsere Augen erfreuen sich – nach der hektischen und von Umlauten geschwängerten ungarischen Sprache – an der südländischen Geschmeidigkeit, die sich im Rumänischen mit einer überraschenden Vollmundigkeit paart. In Timisoara bleiben wir. Eine Nacht nur, wir sind rastlos und haben die Ruhe noch nicht gefunden, Tage zu verschenken. Es soll vorwärtsgehen, das schwarze Meer ist das Ziel, das erste, noch lange vor der Mongolei. Wenn wir in einigen Tagen an der Donaumündung ankommen, werden wir den Fuss vom Gaspedal nehmen.



14. April 2012   /////   Mondsee
Die erste Nacht liegt hinter uns, nass war sie draussen, innen sind die Scheiben beschlagen. Das Kleid, die Reise, ist noch neu und es passt, ist aber noch etwas steif. Kilometer um Kilometer vergeht, Zeit in der man langsam in das neue Kleid schlüpft, den verhangenen österreichischen Alpen nachschaut oder sich von den streng regelmässigen Tunnellampen einlullen lässt. Weit sind wir noch nicht, Züri West und Patent Ochsner lösen noch keine Gefühlsausbrüche aus. Kurz halten wir in Graz und besuchen das Kunstmuseum – ein rundes Ding, innen wie aussen. Nach dem vielen Sitzen empfiehlt es sich, durch die Stadt zu rennen anstatt zu gehen. Kurz vor der ungarischen Grenze - in Poppendorf - gibt es Bauland ab 5.- Euro der Quadratmeter zu haben. Das Häusle auf dem Lande haben wir bestellt, für nach der Reise.


13. April 2012   /////   Grenzüberschreitung
Österreich, ein schönes Land. Gestern rein, heute raus. Ein andermal reicht es dann vielleicht für länger. Es ist das Land der Lärmschutzwände. Was bei uns die Aussendämmungslobbyisten sind, scheinen hierzulande die Lärmschutzwandlobbyisten zu sein. Sogar Fux und Has und Zitterpappel werden hermetisch vor Autobahnlärm geschützt. Das ist schön für die Tierwelt, macht die Sache aber etwas öder für uns. Ist aber egal. Wer wie ein Irrer auf dem schnellstmöglichen Weg durchs Land fräst, hat kein Anrecht auf schöne Aussicht. Schöne Aussicht gibt es dann am Mondsee. Im Mondsee gibts keinen Mondfisch. Aber er hat einen schönen Namen und wurde deshalb als verhangene, aber nichtsdestoweniger würdige Kulisse für unser erstes Defendercampingexperiment ausgewählt.